Angst – Macht, die machtlos macht!?

Einmal mehr ist es die Corona-Pandemie, die etwas in uns belebt, was uns alle betrifft. Ängste. Das liegt auch nahe, denn viele Menschen reagieren auf Veränderungen mit Angst. Und Corona hat unser Leben verändert und wird es vermutlich weiter tun. Anlass genug, unseren Newsletter dem Thema Angst zu widmen:

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Ängste kennt jeder von uns. Hoffentlich!

Denn die Angst ist das Gefühl in unserem Leben, dem wir es verdanken, dass wir nicht leichtfertig in kleinere oder sogar größere Unglücke schlittern. Dass uns die Angst aber auch manchen „Streich spielt“, zeigen so lustige Beispiele, wie die Angst vor Spinnen oder Mäusen. Keine Maus hat jemals einen Menschen ums Leben gebracht und auch nur wenige Spinnen vermögen uns Menschen „gefährlich“ zu werden. Die einen steigen mutig in eine Achterbahn oder gehen Tauchen, während dieselben Dinge bei anderen Schweißausbrüche auslösen, sobald sie nur daran denken. Es gibt quasi kaum etwas, wovor man nicht Angst entwickeln kann. Manche Ängste wurden uns womöglich eingeredet, anderen liegt eine negative Erfahrung zugrunde. So ist es nachvollziehbar, dass Wasser als Bedrohung empfunden wird wenn man z.B. als Kind von einem Freund zu lange unter Wasser getunkt wurde.

Unsere Ängste stehen auch im Kontext von Kultur und Zeitalter. In der Steinzeit war es der Säbelzahntiger, im Mittelalter Naturgewalten wie Gewitter, Raubritter, Waldtrolle oder Hexen. Heute sind es Armut, Krankheiten, Viren, Fremde, Umweltzerstörung und Klimawandel oder Einsamkeit, die uns Angst machen.

 

Angst, unser starker Beschützer

Angst ist neben Freude, Trauer und Wut eines der Grundgefühle unseres Lebens. Manche zählen Ekel und Scham noch dazu. Sie meldet sich, wenn Gefahr droht, zum Beispiel beim nächtlichen Überfahren einer unübersichtlichen und unbeschilderten Kreuzung in einem Waldstück. Unser Warnsystem meldet „Es könnte gefährlich werden“ und signalisiert mir, dass ich in Gefahr gerate, wenn ich mein Verhalten nicht entsprechend anpasse. Durch Erfahrungen lernt ein Kind, bestimmte Dinge oder Situationen zu bewerten und vor-sichtig zu werden. Die Hand hält dann Abstand zur  Herdplatte und der Hund wird nicht mehr uneingeladen angefasst. So schützt uns die Angst von Kindesbeinen an.

Sie ist unser persönlicher „Bodyguard“, der kleine Schutzmann in uns, der wie ein verstecktes Radar unsere Lebenswirklichkeit abscannt und hin und wieder meldet „Es könnte Unheil drohen“, also eine Situation, die uns die Kontrolle entzieht.

Und weil unsere Erde ein Ort ist, der auf unterschiedliche Weise Gefahren birgt, sind wir gut beraten, mit unserer Angst in einem guten (!) Dialog (!) zu sein. Die beiden Ausrufezeichen sollen schon anzeigen, wo die Angst ihre Fallen aufstellt.

 

Die irrationale Seite der Angst

„Was wäre, wenn …?“
Mit diesem kleinen Satz fängt die Angst gerne an, leise mit uns ins Gespräch zu treten. Was wäre, wenn du die Ausbildung nichts schaffst? Was wäre, wenn du deinen Arbeitsplatz verlierst. Was wäre, wenn unser Sohn bei einem Auslandsaufenthalt verunglückt?

Und wir merken: Neben ihrer Schutz-Funktion neigt die Angst dazu, sich in unseren Gedanken und Gefühlen aufzublähen und uns in unseren Möglichkeiten zu blockieren. Die Angst, von einem Menschen verletzt zu werden, führt dazu, Nähe zu vermeiden, die Angst zu versagen führt dazu, berufliche Chancen nicht wahrzunehmen, die Angst vor Autoritäten führt dazu, persönliche Rechte nicht wahrzunehmen. „Weil ich einen Unfall erleben könnte, fahre ich lieber kein Auto mehr“ „In den Keller gehe ich nicht, weil dort eine Spinne …“, … ja, was eigentlich, möchte man fragen. Ängste können unsere Fähigkeit zu gesunder Reflexion und damit unser Verhalten beeinflussen. Zum Guten und zu unserem Nachteil. Der Bodyguard mutiert zum Schreckgespenst, das unser Handeln lähmt. Die Angst wird pathologisch.

 

Ursprünge von Angst

Ein erster Schritt der Bewältigung von starken Ängsten ist daher, ihren Ursprung zu kennen. Mittlerweile hat man herausgefunden, dass es Ängste gibt, die genetisch angelegt sind, was nicht heißt, dass wir ihnen hilflos ausgeliefert sind. Viele Ängste sind biographisch bedingt, manche sind sogar eingeredet oder bewusst geschürt worden. Im Laufe seines Lebens lernt der Mensch, unangenehme Erfahrungen zu fürchten und zu meiden. Gerade im ungeschützten Kindesalter können verstörende Erfahrungen zu tiefsitzenden Ängsten und anhaltenden Vermeidungsreaktionen führen. Oft können Menschen so recht lange unbehelligt von ihren Ängsten leben, bis fortgeschrittenes Alter oder eine krisenhafte Situation die Funktionalität gewohnter Schutzmechanismen durchbricht.

Extremen Ängsten liegt oft ein traumatisches Erlebnis zugrunde, das sorgfältiger therapeutischer Begleitung bedarf. Gemeinsam ist fast allen Ängsten, dass sie uns das Gefühl geben, der „Koffer eigener Handlungsmöglichkeiten“ ist verschlossen oder leer. Wir fühlen uns machtlos, erleben uns nur noch als Spielball – umhergetrieben von Kräften, die außerhalb von uns selbst liegen.

Diesen Kontrollverlust erleben wir nicht nur in Extremsituationen, sondern auch in ganz normalen Lebenszusammenhängen, in die uns der Alltag führt.

 

Individuelle Angst oder Grundangst

Dem Tiefenpsychologen Fritz Riemann (1902-1979) verdanken wir die dezidierte Unterscheidung zwischen Grundängsten und individuellen Ängsten.

Neben den individuellen und situativen Ängsten identifizierte Riemann Ängste, die sich zeigen, wenn das Leben unvermeidbare Grundaufgaben an uns stellt. Man könnte sie wie folgt beschreiben:

  • die Angst vor Veränderung, dem Unbekannten und Bewegung, z.B. wenn wir umziehen müssen, einem Stellenwechsel zu meistern haben oder ein neuer Kollege durch seinen Arbeitsstil das Zusammenspiel eines Teams neu „schüttelt“.
  • die Angst vor Verbindlichkeit, die als Freiheitsverlust erlebt wird, z.B. im verantwortlichen Dasein für eine Familie, Beständigkeit im Job oder beim gewissenhaften Ausführen von Aufgaben.
  • die Angst vor Eigenverantwortlichkeit und damit verbundener Selbstfürsorge. Wir sollen lernen, ein originales Individuum zu werden, Fähigkeiten und Kompetenzen zu entwickeln und uns, wenn nötig, auch selbst-bewusst gegenüber anderen abzugrenzen.
  • die Angst vor Öffnung und Hingabe, uns der Welt und anderen Menschen vertrauensvoll zuwenden und uns auf sie einlassen.

 

Diese vier Aufgaben und die damit verbundenen Ängste erleben wir unterschiedlich intensiv. Wenigstens eine davon wird uns vermutlich „im Blut liegen“ und eine andere wird uns schwerfallen und die dazugehörige Grundangst bedienen.

Ziel nach Riemann ist die Einübung einer Ausgeglichenheit der vier Anforderungen und somit auch einer Überwindung der damit verbundenen Angst. Ein „gesunder Mensch“ vermag den vier Anforderungen konstruktiv zu begegnen und den damit verbundenen Ängsten gegenüber zu treten.

 

Angstfähigkeit statt Angstfreiheit

Unsere Aufgabe besteht darin, selbstbeschränkende Denkgewohnheiten aufzuspüren, ihre Schutzfunktion zu hinterfragen, sich ihnen zu stellen und sie möglicherweise zu überwinden.

Die meisten von uns kennen den Wunsch, irgendwie frei von lähmenden Ängsten zu werden. Meine Vermutung ist, dass dies angesichts vieler Unwägbarkeiten, denen unser Leben ausgesetzt ist, nicht möglich ist. Oft empfinden es Menschen wie einen Kampf mit diesem Wunsch, den sie einfach nicht gewinnen können. Das mag frustrieren, führt uns aber zur wichtigen Erkenntnis, dass wir lernen müssen, mit unserer Angst umzugehen. Wir akzeptieren, dass es sie gibt, zum einen als wertvoller Beschützer, als Lebensaufgabe (Grundängste) und leider auch als aufgeblähtes Schreckgespenst. Unsere Aufgabe besteht darin, Fähigkeiten zu entwickeln, die unsere Handlungsfähigkeit steigern und uns unsere Selbstwirksamkeit zurückgeben. Selbstbeschränkende Denkgewohnheiten können wir aufspüren, ihre vermeintliche Schutzfunktion hinterfragen und dadurch das Angstgefühl nach und nach zu mindern und es möglicherweise zu überwinden.

 

Umgehen mit der Angst – Der persönliche „Angst-Koffer“

Wenn Sie selbst mit Ängsten zu tun haben oder Menschen mit Ängsten begleiten, empfehle ich, einen „Notfall-Angst-Koffer“ zu packen, den Sie im Bedarfsfall öffnen können, um sich selbst zu helfen, wenn Angst Ihr Kontrollzentrum angreift oder lahmlegt. Folgende Dinge könnten darin ihren Platz finden:

 

Akzeptieren:

Die Bewältigung von Herausforderungen beginnt damit, dass wir sie annehmen und ihr Dasein akzeptieren. Noch immer schämen sich Menschen über ihre Ängste zu sprechen. Und so verdrängen wir sie oder bekämpfen sie verborgen, aber erfolglos. Alles, was wir bekämpfen, bleibt. Wir machen sie sozusagen indirekt stark. Machen wir uns dagegen bewusst „Ja, ich habe gerade Angst“, dann können nächste Schritte besser gelingen.

 

Konkretisieren:

Da Ängste oft als diffuses Gefühl auftreten, versuchen Sie Ihre Angst so konkret es Ihnen möglich ist, zu benennen. Ist es ein reales Geschehen oder nur ein mögliches Szenario unter vielen? Ist es eine Prüfung, eine Person, eine bevorstehende Entlassung o.ä.? Was weiß ich über meine Angst? Kommt sie aus einem schlimmen Erlebnis, meiner Geschichte oder ist tatsächlich eine böswillige Person der Anlass? Wann tritt meine Angst auf? Woran macht sie sich fest? Was ging einem Angstanfall voraus? Wo spüren Sie die Angst im Körper? Was befürchten Sie, könnte passieren?

 

Führen Sie ein Angst-Tagebuch

Schreiben hilft! Wir können Begleitumstände, Häufigkeit, das Aufkommen von Bildern oder die Intensität (etwa auf einer 10er Skala) festhalten. Sowohl das Verschriftlichen von Gefühlen und Ereignissen, als auch das spätere Lesen helfen dabei, die Kraft der Angstfaktoren besser einzuschätzen. Kritzeln, Krickeln oder malen Sie, was Sie empfinden, auch wenn es Ihnen im ersten Moment peinlich erscheint.

 

Entspannungsübungen erlernen

Der Umgang mit der Angst beginnt oft mit einer verbesserten Eigenwahrnehmung. Die lässt sich leicht und praktisch selbst einüben, indem wir innehalten, tief und langsam einatmen, unsere Aufmerksamkeit auf unseren Körper richten. Vielleicht gibt es einen Satz oder Ausspruch, der sie beruhigt, wenn Sie ihn wiederholt aussprechen. Autogenes Training (AT) oder Progressive Muskelentspannung (PMR) bieten in Literatur und Internet erprobte Modelle an.

 

Den Körper fit halten

Schon einfache körperliche oder sportliche Aktivitäten helfen, weniger anfällig für Angstsymptome zu sein. Ein Spaziergang (mit Hund😉), Radfahren, Schwimmen oder Joggen unterbrechen in wohltuender Weise die Grübelspirale und animieren die körpereigene Ausschüttung belebender Endorphine.

 

Im Austausch bleiben

Grübeln verstärkt Ängste. Bleiben Sie nicht allein mit Ihren Ängsten. Denn: Sie sind nicht allein mit Ihren Ängsten. Überwinden Sie die Hemmschwelle, über Ängste zu reden. Es ist befreiend, mit einem Menschen Ihres Vertrauens, einer Berater*in oder sogar Therapeut*in Ängste zu thematisieren, gemeinsam den „Koffer zu packen“ und eine Strategie zu entwerfen.

 

Nutzen Sie persönliche Vorlieben

Ein Bild mit Strand oder Gebirge führt unsre Blicke und Gedanken in die Weite und Größe der Schöpfung. In der Enge der Angst weitet dies das Empfinden. Möglicherweise hilft Ihnen, eine bestimmte Musik zu hören oder sogar selbst zu musizieren. Nutzen Sie alles, was Sie erfreut und Ihnen gut tut.

 

Defokussieren

Beim Fotografieren mit einem manuellen Apparat können wir mit dem Sucher das gewünschte Motiv selbst scharf stellen. Die meisten neueren Kameras üben diese Funktion mit dem Autofokus von selbst aus. Menschen, die unter wiederkehrenden Ängsten leiden haben eine ähnliche Automatik. Wie „von selbst“ richtet sich die Aufmerksamkeit auf etwas, was bedrohlich werden könnte. Das bunte Spektrum der vielen anderen Lebensumstände, die die Angst lindern, gerät sprichwörtlich aus dem Blick. Wir können uns also fragen, was es am Rande der Angst oder daneben noch gibt.

 

Der Angst eine Gestalt geben

Wenn die Angst ein Tier, ein technisches Gerät oder Gegenstand wäre, welche Gestalt hätte es? Wo befindet es sich? Stellt es sich Ihnen in den Weg oder treibt es Sie vor sich her? Ist es laut oder flüstert es? Wie funktioniert es? Wenn es hinter mir lauert und brüllt, wie reagiert es, wenn ich mich umdrehe? Die Begleitung einer Berater*in oder Therapeut*in ist hier eine große Hilfe.

 

Einsamkeit auflösen bzw. meiden

Vermeiden Sie allzu lange Zeiten des Alleinseins. Ein gutes Gleichgewicht zwischen Gemeinschaft und Zeit allein ist sehr wichtig.

 

Zum Schluss:

Beginnen Sie, sich auszuprobieren. Jeder Mensch ist anders und reagiert ganz unterschiedlich auf Lebenszusammenhänge. Und: Holen Sie ihre Angst aus der Verborgenheit heraus. Üben Sie im Wortsinn „Verrat“ an ihr, z.B. mit einer Freund*in oder Berater*in. Dann ist ihre Bewältigung eingeleitet.

 

Kontakt

Mario Wege
Betriebliche Sozialberatung Standort Melsungen
Tel.: (05661) 919 97 81
Mobil: 0157 – 92 33 65 21
mario.wege@diebildungspartner.de

 


Literatur zum Vertiefen:

Udo Baer/Gabriele Frick-Baer: Gefühlslandschaft Angst – in: Kleine Bibliothek der Gefühle; Beltz-Verlag, ISBN: 978-3-407-85871-9

Fritz Riemann: Grundformen der Angst; Ernst Reinhardt Verlag, ISBN: 3497024228

„Nur Mut! Das kleine Überlebensbuch – Soforthilfe bei Herzklopfen, Angst, Panik & Co“ von Dr. med. Claudia Croos-Müller; Kösel Verlag, ISBN: 978-3-466-30945-0

 

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